Die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik
Von wissenschaftlicher Politikberatung zur Eingeweideschau
Ich möchte im Folgenden auf die Rolle von politikwissenschaftlicher Beratung eingehen, wie sie insbesondere in Deutschland praktiziert wird. So bietet sich ein Blick auf die politikwissenschaftliche Fachliteratur in Deutschland an. Der Zusammenhang zwischen politischen Entscheidungen und wissenschaftlicher Politikberatung, bzw. der Rolle der Wissenschaft in politischen Diskursen, wird seit einiger Zeit erforscht und so existieren bereits viele Fachpublikationen zur Form und Funktion wissenschaftlicher Politikberatung. So endigt zum Beispiel Lentsch, 2015 seinen Aufsatz im Handbuch für Wissenschaftspolitik mit der Bemerkung: «Dass dabei (bei der Politikberatung) die Prozessdimension zentral ist und der Beitrag politischer Beratung zur Verbesserung bzw. Steigerung der Qualität politischer Entscheidungen nicht immer zwingend mit dem Wahrheitsgehalt der Expertise korreliert, zeigt eines der ältesten und erfolgreichsten Beispiele Expertise-basierter politischer Beratung: die Sterndeutung in den Kulturen des Alten Orients.» Und in «Die Organisation wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland» von Renate Mayntz, 2006 lesen wir: «Wissen bedroht Macht nicht schlechthin, sondern kann ihr auch nützen – und sei es, weil effektive Problemlösung sich in politischer Unterstützung auszahlen kann.»
Lentsch vergleicht wissenschaftliche Politikberatung also mit der «Sterndeutung des Alten Orients», bei der durch Sternbeobachtung bzw. Eingeweideschau rituell geschlachteter Tiere die Zukunft und der potentielle Erfolg politischer Unternehmungen und ihre Legitimation ermittelt wurden. Dies scheint ein treffendes Bild dafür zu vermitteln, was wissenschaftliche Beratung für die Politik in ihrem Kern eigentlich bedeutet. Sie soll begründen und legitimieren, was Politiker, abhängig von ihren je eigenen Interessen, jedoch unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, der Bevölkerung gegenüber vertreten.
Das heisst, dass es aus Sicht der Politik in keinem Fall darum gehen kann, ergebnisoffen wissenschaftliche Resultate zu empfangen. Das Ziel von Politikern ist vielmehr wissenschaftliche Resultate so instrumentalisierbar zu machen, dass sie diese im Rahmen ihrer exekutiven oder legislativen Funktion einbringen können. Sie sind von vornherein daran interessiert instrumentalisierbares Zielwissen zu erhalten. So verspricht die Stiftung für Wissenschaft und Politik als akademischer Thinktank zwar Unabhängigkeit in Forschung und Beratung. Zweckfreie Grundlagenforschung sei jedoch nicht das Ideal von Wissenschaft, die von Thinktanks verwendet wird (Mayntz 2006): «(…) die Produktion wissenschaftlichen Wissens im wissenschaftlichen Forschungsprozess folgt anderen Fragen, Anreizstrukturen, Relevanz- und Gültigkeitskriterien als Expertisen für politische Entscheidungsprozesse. Statt um „Wahrheit“ geht es hier vielmehr um „dienstbare Wahrheiten“ („serviceable truths“) (Jasanoff 1990), (Lentsch 2015) oder „usable knowledge“ (Haas 2004), „fit for function“ (Funtowicz 2001).»
So gibt es in Deutschland drei grosse politiknahe Thinktanks (Deutschland besitzt die zweitgrösste Anzahl Thinktanks in Europa, nach Grossbritannien). Die Konrad Adenauer Stiftung, die Friedrich Ebert Stiftung, und die Stiftung für Wissenschaft und Politik. Gemeinsames Merkmal: Alle drei Stiftungen werden staatlich finanziert und sind entweder durch Parteibindung oder Lobbyismus an die Interessen der politisch verantwortlichen gebunden. Wobei die Think Tanks ihre öffentliche und nicht private Finanzierung als Garantie ihrer Unabhängigkeit von privaten Einflüssen verstehen (Deutscher Bundestag 2021: 16)1. Politiker wünschen sich von ihnen demgemäss eine Begründung und Rechtfertigung ihrer Politik. Die genannten Thinktanks wiederum wissen, was sie zu tun haben. Sie haben diejenigen wissenschaftlichen und politischen Begründungen hervorzubringen, die im Sinne ihrer Auftraggeber nötig sind, um Regierungs- und Parlamentspolitiken zu legitimieren, sprich, politisches Handeln zu «erklären». Indirekt stehen sie demnach im Dienst derjenigen Lobbys, die wiederum die Politiker mandatieren. Wirtschaftliche Interessen spielen dabei die ausschlaggebende Rolle. Dabei können wir als wirtschaftliche Interessen durchaus auch die Interessen von Gewerkschafts- und regierungsnahen Kreisen verstehen, die im Auftrag ihrer eigenen Klientel (Staats- und Verwaltungsbeamte), Lobbying im Bundestag betreiben. Wissenschaftliche Begründungen stehen so immer schon im Dienste wirtschaftlicher Interessen. Mit reiner «Wissenschaft», die ergebnisoffener Wahrheitssuche verpflichtet ist lässt sich hingegen niemals Politik machen. Erstens, weil rein wissenschaftliche Daten als solche niemanden interessieren und zweitens, weil sie kein instrumentalisierbares Handlungswissen bietet.
Hingegen haben Politiker bestimmte Interessen, und sie haben ein Begründungs- und Legitimationsproblem. Sie stehen im Auftrag bestimmter Lobbyinteressen, die ihnen Geld und medialen Einfluss verschaffen, sie auf die entsprechenden Parteiposten befördern und ihnen diejenigen Beziehungen verschaffen, die sie brauchen, um öffentlichkeitswirksam zu werden. Politiker dienen bestimmten Interessen. Das ist eine Binsenweisheit. Zugleich ist jedoch klar, dass sich die entsprechenden Lobby- und Wirtschafts-Interessen öffentlich nicht ohne weiteres geltend machen lassen. Politiker würden wohl kaum wiedergewählt werden, wenn sie zu Protokoll gäben, dass sie bestimmten Lobbyinteressen dienen. Offiziell befinden sie sich deshalb immer im selbstlosen Dienst der Bevölkerung. Sie brauchen also eine andere Begründung für ihre Politik. Diese liefern ihnen Medien, Parteien, Universitäten, Thinktanks, wissenschaftliche Beiräte und vor allem die genannte Politikberatung in Form Studien, Jahresberichten, Empfehlungen von Expertenkommissionen, Medienberichten, usw.
Nur so ist beispielsweise folgender Widerspruch zu erklären: In Deutschland gelten seit Jahren offiziell 13 Mio. Menschen (Das entspricht 15,8 % der Bevölkerung Deutschlands) als «arm»2. Das bedeutet, für eine alleinlebende Person in Deutschland maximal netto 1 251 Euro im Monat, mit oder ohne Stelle, Hartz IV, 1- Euro Job oder Aufstockertätigkeit. Ebenfalls befinden sich mittlerweile 2 Mio. Menschen in der Situation nicht genug zu essen zu haben, so dass sie sich vor (zunehmend überlasteten) Suppenküchen wiederfinden3. Gleichzeitig gibt nun aber der Sozialstaat offiziell 53% des Bundeshaushaltes für Sozialausgaben aus4. Eigentlich kann man das Versagen des Sozialstaates nicht deutlicher machen als mit diesen Zahlen. Weshalb aber verbessert «die Politik» die Situation dieser Menschen trotz massiver Umverteilung auch nach vielen Jahren nicht? Weshalb haben in Deutschland, dem wirtschaftliche erfolgreichsten Land Europas, in den letzten 20 Jahren die Reallöhne stagniert, und weshalb hat sich stattdessen dort der grösste Billiglohnsektor Europas etabliert5,6?
Weil diejenigen, die die gesetzlichen Grundlagen und Massnahmen schaffen, um eine entsprechende wirtschaftliche Situation zu ermöglichen, zu legitimieren und aufrechtzuerhalten an den entscheidenden Schnittstellen der Macht sitzen und im Dienste derjenigen Lobbys handeln, denen sie ihre Macht zu verdanken haben. Gegen die These, dass ein grosser Teil der Lohnempfänger in Deutschland ausgebeutet werden, wird natürlich vorgebracht, dass der Sozialstaat dies alles auffange und dass dabei so viel Geld umverteilt werde, dass am Ende doch eine unglaublich hohe Lebensqualität resultiere, so dass die wirtschaftlichen Verhältnisse eben keine andere Politik zuliessen.
Für diejenigen, die den überwiegenden Anteil der Wertschöpfung für sich in Anspruch nehmen ist es jedoch nicht entscheidend, wieviel umverteilt wird. Aus ihrer Sicht kann man ruhig umverteilen. Solange sie auf ein Heer von erpressbaren Arbeitnehmern zurückgreifen können, die für Kost und Logie arbeiten, dient ihnen das bestehende System in jedem Fall.
Damit nun diese Zusammenhänge nicht hergestellt werden, damit verborgen bleibt, in welchem Interesse die Politik wirklich arbeitet und vor allem auch, damit deren Arbeit legitimiert wird, obgleich sie prinzipiell in vielen Fällen strukturell versagt, braucht es Politikberatung. Sie stellt sicher, dass sich politisches Handeln legitimieren und begründen lässt, dass suggeriert bleibt, dass der Staat sich, trotz redlicher Bemühung, nun mal einfach den wirtschaftlichen Realitäten beugen musste und am Ende eben nicht mehr herausholen kann als den Mindestlohn für Millionen hart arbeitender Bürger. Sie kann dies selbstverständlich auf Wunsch wissenschaftlich, wirtschaftlich und sozialpolitisch begründen. Und was am wichtigsten bleibt; sie wird von denjenigen mandatiert und finanziert, die von ihren Ergebnissen profitieren und sich mit ihnen profilieren.
«Doch wie kann es sein, dass auf der Grundlage unbestreitbar falscher Prämissen i. d. R. vernünftige Entscheidungen zustande kamen? Eine Frage, die in Deutschland heute vor allem in Bezug auf ökonomische Prognosen gestellt wird. Das Beispiel der altorientalischen Wahrsagekunst zeigt, dass der Prozess der Beratung einen Qualitätszirkel im politischen Gestaltungs- und Entscheidungsprozess in Gang setzt, (…).» (Lentsch 2015). Was Lentsch hier vorträgt kontradiktiert sich selbst. Wenn die wissenschaftliche Beratung nicht auf Wahrheit, bzw. auf wahren Prämissen beruht, kann die Politik auf ihrer Grundlage auch nicht zu vernünftigen Entscheidungen kommen.
Vielmehr haben diejenigen, die ökonomische Leitlinien vorgeben und Prognosen stellen rein profitorientierte Interessen. Oder sie handeln im Interesse ihrer Auftraggeber, deren primäres Interesse die Stabilisierung sozial nicht gerechtfertigter ökonomischer Verhältnisse ist. Ökonomische Prognosen dienen in diesem Zusammenhang der Konstituierung von Machtverhältnissen. Um diese aufrechtzuerhalten sind «unbestreitbar falsche Prämissen» tatsächlich eine Voraussetzung. Würde man dagegen zu wissenschaftlichen Prämissen fortschreiten, dann würde man sehen, dass die bestehenden Verhältnisse radikal geändert werden müssen.
Die Stern- und Eingeweideschauer, sprich Politikberater, kommen so, nach redlich wissenschaftlicher Untersuchung zu denjenigen Resultaten, die ihre Auftraggeber in ihrem Handeln bestärken. Wer hätte es gedacht?
Quellen:
Lentsch, Justus. 2015: Wissenschaftliche Politikberatung: Organisationsformen und Gestaltungselemente, in: Simon, Dagmar; Knie, Andreas; Hornbostel, Stefan; Zimmermann, Karin: Handbuch Wissenschaftspolitik, VS Verlag für Sozialwissenschaften
Mayntz, Renate. 2006: Die Organisation wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland, in: Heidel-berger Akademie der Wissenschaften: Politikberatung in Deutschland, Wiesbaden
Weingart, Peter, und Justus Lentsch. 2008. Wissen Beraten Entscheiden: . Weilerswist: Velbriick Wissenschaft
1 Deutscher Bundestag (2021): Think Tanks - ein internationaler Vergleich, https://www.bundestag.de/resource/blob/874358/90671412ef44a392952d4ac1e1df2361/WD-2-078-21-pdf-data.pdf (letzter Zugriff am 13.11.2022).
2 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 327 vom 4. August 2022 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/08/PD22_327_634.html abgerufen am: 05.01.2023
3 Mehr als zwei Millionen Menschen nutzen inzwischen die Hilfe an Tafeln, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/arm-und-reich/mehr-als-zwei-millionen-menschen-nutzen-inzwischen-die-hilfe-der-tafeln-18567930.html abgerufen am: 05.01.2023
4 https://crp-infotec.de/deutschland-sozialausgaben-bund/
5 https://aktuelle-sozialpolitik.de/2020/10/22/der-beste-niedriglohnsektor-in-europa-2018/ abgerufen am 05.01.2023
6 https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Arbeitsmarkt/Qualitaet-der-Arbeit/_dimension-2/niedriglohnquote.html