Kürzlich habe ich mir das LCH-SER Argumentarium 2019 des Lehrerdachverbands der Schweiz gegen die Privatisierung der Volksschule durch freie Schulwahl und Bildungsgutscheine angeschaut. Ein spannendes Lesevergnügen, das man nur jedem Lehrer empfehlen kann. Nach der Lektüre steht fest: Der Lehrerverband sieht im Bildungsgutschein geradezu existentielle Bedrohungen. Das ist einigermassen erstaunlich.
Geradezu reaktionär wirkt der Lehrerverband wenn er argumentiert: “Die Forderung nach freier Schulwahl heisst Steuergelder aus der Volksschule abzuziehen und an private Anbieter zu verteilen. Dies schwächt die Volksschule, gefährdet die Chancengerechtigkeit und führt zu einer Zweiklassen-Bildungsgesellschaft.”
Fortwährend wird dabei mit der Stärkung der Demokratie durch eine starke Volksschule argumentiert. Ja, es wird geradezu zur Lebensbedingung unserer Demokratie erklärt, dass die Mehrheit der Kinder die Volksschule besuchen dürfen, Verzeihung, müssen. So, als ob der Grad an Demokratisierung in einem Land, in der Schweiz insbesondere, davon abhinge, dass die Bevölkerung flächendeckend die Volksschule besucht hat. Die Volksschule scheint für den Lehrerverband die grosse Lebensschule der Demokratie zu sein. Jedoch ist die dabei vielbeschworene Demokratiefähigkeit der Bevölkerung schon dadurch in Frage gestellt, dass jeweils höchstens 40%-50% der Stimmbürger überhaupt wählen und abstimmen gehen. Darüber hinaus sind viele Stimmbürger aus diversen Gründen, geradezu desinteressiert und auch immer wieder kaum in der Lage zu beurteilen, worüber sie da eigentlich abstimmen. Die Abschaffung von Demokratie- und Staatskunde im Volksschulunterricht wird dabei nicht gerade dazu beigetragen haben, dass die Demokratiekompetenzen der werdenden Stimmbürger besser werden.
Folglich ist wohl davon auszugehen, dass die Demokratisierung der Bevölkerung nicht besonders gut durch die Volksschule bewerkstelligt wird.
Wobei hier die Frage unbeantwortet bleibt, was sich wohl der Lehrerverband unter einer demokratischen Gesellschaft vorstellt? Jedoch sicher ist: “Der Zweck der Volksschule ist nicht nur die individuelle Grundbildung sicherzustellen, sondern auch einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt unserer demokratischen Gesellschaft zu leisten.” Es geht also mehr um diesen irgendwie gestalteten Beitrag zum Zusammenhalt als um demokratische Grundbildung. Der letzte Satz im Absatz, “Eine starke Demokratie…”, erhellt den Zusammenhang besser: “Die Volksschule ist die wichtigste staatserhaltende Funktion in einer Demokratie…”. Erhellend deshalb, weil damit eben klar wird, um was es wirklich geht. Es geht um die Erhaltung des Staatsvolks. Es geht darum, dass die Unterschiede zwischen den Kindern, in der Schweiz also zunehmend verschiedenartigen Ethnien, Volksgruppen, Nationen, und Kulturen, angeglichen werden. Andernfalls droht die: “Fragmentierung der Gesellschaft, was der Demokratiefähigkeit der Kinder und Jugendlichen im Weg steht.” Weiter heisst es:
“Schulen, welche von privaten Trägerschaften betrieben werden (Privatschulen; freie Schulen) haben grundsätzlich einen segregativen Charakter, entweder durch eine bestimmte religiöse Ausrichtung oder indem sie Familien bestimmter Schichten anziehen, (…) Private Schulträgerschaften mit Steuergeldern zu finanzieren fördert eine Fragmentierung der Gesellschaft, was der Demokratiefähigkeit der Kinder und Jugendlichen im Weg steht.”
So scheint die Idee des Bildungsgutscheins, für die die Elternlobby Schweiz einsteht, also die Grundfeste der Demokratie, die öffentliche Schule und damit den sozialen Zusammenhalt anzugreifen… Junge Junge. Was muss die Elternlobby diesen Leuten angetan haben? Man fragt sich unwillkürlich, was der Lehrerverband eigentlich in Wahrheit fürchtet, dass er sich zu solchen Behauptungen versteigt?
Da sämtliche politischen Parteien in der Schweiz sich einig darüber sind, dass sie den Bildungsgutschein ablehnen, muss sie jedenfalls ein gemeinsames Interesse mit dem Lehrerverband verbinden. So scheint sich die Linke mit der Rechten Seite des politischen Spektrums vollkommen darin zu verstehen, dass sie die Volksschule als Instrument des “Zusammenhalts unserer demokratischen Gesellschaft“ sieht: “Die Volksschule war und ist eine der tragenden Grundpfeiler des modernen liberalen Bundesstaates. Insbesondere in einer zunehmend pluralistischen, globalisierten Gesellschaft gewinnt die Volksschule als Ort der Sozialisierung und Vermittlung gemeinsamer Werte an Bedeutung.”
Könnte es sein, dass sich die linke wie sie rechte Seite des politischen Spektrums in Wahrheit darüber im Klaren ist, dass sie, wenn sie den Zugriff auf die Mehrheit der Kinder über die Volksschule verlieren würde, auch ihren Einfluss auf bestimmte Gesellschafts- und Machtstrukturen verlieren würde? Dass bestimmte Teile der Politik ganz genau wissen, dass sie, wenn sie die Kontrolle über die Volksschule verlieren, auch die Möglichkeit verlieren die Mehrheit der Bevölkerung zu systemkonformem Verhalten zu erziehen? Ist das vielleicht die Bedeutung des Satzes: “Die Volksschule ist die wichtigste staatserhaltende Funktion in einer Demokratie…”?
Schule ist ein Disziplinierungsinstrument. Das war zu allen Seiten den Politikern moderner Staaten klar. Ob sie nun einen rechten oder einen linken Anstrich hatten. Deshalb auch das ständige Insistieren der Stellungnahme auf Verantwortung, sozialen Zusammenhalt, Inklusion, und der tragenden Rolle der Inklusion für den modernen Bundesstaat: “Empirische Studien aus anderen Ländern zeigen, dass Charter Schools (Privatschulen) (…) nicht generell bessere Leistungen hervorbringen, aber dafür das gesamte Bildungssystem gefährden, indem sie die Chancengerechtigkeit verschlechtern und zu mehr sozialer Segregation führen. Kurz gesagt würde die Privatisierung der Volksschule zu einer Verteuerung des Bildungssystems führen, sowie grossen Schaden an den demokratischen Grundwerten und am hohen Bildungsniveau für alle Bevölkerungsschichten in unserem Land anrichten.” Ein Lieblingswort der Stellungnahme ist auch: “soziale Segregation”, zu deutsch vielleicht, Ghettoisierung sozialer Schichten. Aber wer sagt, dass die Zulassung eines Bildungsgutscheins gleich die ganze Volksschule ruinieren würde? Und wie kann es zu einer Verschlechterung des Bildungsniveaus kommen, wenn doch die Privatschulen laut dem Dokument vergleichbare Leistungen bei den Kinder hervorbringen?
Wir lesen hingegen, die “Gleichheit” sei das Problem: Das Abziehen besserer Schüler aus dem Grundschulunterricht führe dazu, dass die schlechteren in der Volksschule übrigblieben und dies wiederum dazu, dass der Klassenschnitt gedrückt werde. Hier wird also zugegeben, dass es keineswegs darum geht für die Kinder die ideale Lösung zu finden. Es geht vielmehr darum, das allgemeine Niveau zu erhalten... Was wiederum bedeutet, dass das Lern- und Bildungsniveau im Volksschulunterricht nicht so unglaublich hoch sein kann. Sonst würde man in der Volksschule die Konkurrenz der Privatschulen ja nicht zu fürchten brauchen. Mit anderen Worten: Wenn die Volksschule das Nonplusultra der Bildungslandschaft ist und die mit Milliarden gefütterte Bildungs-Königsklasse, die einfach nicht besser als durch die Volksschule zu machen ist, weshalb sollten Privatschulen ihnen dann die Kinder streitig machen können? Solche und ähnlich Zirkelschlüsse kann das Dokument jedoch nicht im Ansatz erklären.
Natürlich führt es nicht zu sozialer Segregation, wenn an der Volksschule vom frühest möglichen Zeitpunkt an Noten verteilt werden. Obwohl Notenvergaben nachweislich (gemäss Remo Largo) keinen positiven Einfluss auf die Leistungsbereitschaft der Schüler haben, vor allem auf der Unter- und Mittelstufe, und obwohl sie die Segregation der Schüler in bessere und schlechtere nachweislich fördern, schafft man es an der Volksschule (zum Beispiel im Kanton Zürich) seit Jahren nicht, sie abzuschaffen. Wozu führt denn die Qualifizierung der Kinder nach Noten und später nach Oberstufen-Niveaus (früher in Oberschule, Realschule, Sek, Gymnasium), das Sitzenbleiben und das Erzeugen willkürlicher Konkurrenz unter den Schülern? Sie führt dazu, dass man sich als mittelmässiger bis schlechter Schüler wahlweise 3, 4, 5, oder gleich 9 Jahre lang schlecht fühlt. Nämlich so schlecht, wie die eigenen Noten und die mit einem unzufriedenen Lehrer einem das deutlich machen. Man ist objektiv ein schlechter Schüler, egal wie sehr einem das moderne Sozialpädagogen schönreden. Ein Etikett, dass die meisten kaum loswerden. Und man ist deshalb ein schlechter Schüler, weil die von der Volksschule beschlossenen Massstäbe einem entsprechend qualifizieren. Da spielt es auch keine Rolle, ob ich meine Stärken vielleicht in einem anderen Bereich habe. Wenn ich nicht gut darin bin herauszufinden, was meine Lehrer gerne hören möchten, und nicht schnell genug auswendig lerne, oder wenn ich gar in einem Bereich etwas schlauer bin als der Klassenlehrer, dann habe ich eben Pech gehabt. Der Staatsschullehrer ist der Massstab, nachdem wir lernen und der Staatsschullehrer hat Recht. Er muss nämlich Recht haben, denn er ist der Vertreter der Staatsgewalt. Und der Staat sind wir alle, gemäss Thomas Hobbes. (Dasselbe Problem haben wir, nebenbei bemerkt, beispielsweise mit Chefärzten in den hierarchischen Verhältnissen unseres Gesundheitssystems.)
Dem setzt Rudolf Steiner die schrittweise und vollständige Befreiung des Geistesleben vom Staat entgegen. Denn würde es keine Staatsschullehrer geben, würde es auch niemanden geben, der sich scheinbar demokratisch auf die Mehrheit hinter seinem Rücken berufen könnte. Damit wäre eine grosse Bürde der Schule schon einmal beseitigt: “Ein Mensch, der auf einen anderen als Pädagoge wirken möchte, muss sich von der Zuwendung dieses anderen abhängig machen. Diese Zuwendung ist die einzig mögliche Rechtfertigung für die Position als „Lehrer“. Wer sie nicht erhält, darf sich nicht durch Gewaltmaßnahmen, sei es durch ein Recht, sei es durch eine Schulpflicht, sei es durch allgemeine Steuermittel halten können, sondern muss durch die Verhältnisse genötigt sein, in einen anderen Beruf zu wechseln.” Johannes Mosmann, Was ist eine Freie Schule? 2015, S. 19 (1) Gerne wird vergessen, dass es sich beim Schulobligatorium eben auch um eine Form der Gewalt handelt.
Und etwas vorher, Ebd. S. 17: “Unbewusst, zunehmend aber auch bewusst, weiß der Schüler, dass es auf die „Autorität“ des Lehrers nicht ankommt, weil der Lehrer sich diese ja nur beim Staat geborgt hat. Der Schüler weiß: Der Lehrer ist ein Rechtsabhängiger wie ich auch. Wenn ich durchschaue, was der Lehrer von mir hören muss, bekomme ich gute Noten, und dann komme ich vorwärts. Sowohl der Stoff als auch der Lehrer selbst werden Mittel zum Zweck des persönlichen Egoismus. Diese Schein-„Bildung“ entzieht später gerade dem demokratischen Rechtsleben den Boden(!). Rudolf Steiner sieht in der Zersetzung des Bildungsprozesses durch staatliche oder dem Staat abgekupferte Mechanismen eine der Hauptursachen des sozialen Verfalls, letztendlich auch des Staates selber. Er will das System deshalb umkehren („auf die Füsse stellen“ wie er sagt). Staat und Wirtschaft, so Steiner, müssen auf den sich entwickelnden Menschen bauen. Von den zukünftigen Menschen hängt ab, was einmal „Recht“ sein wird, und wie sich die wirtschaftlichen Verhältnisse gestalten. Das Kind selbst muss deshalb in den Mittelpunkt der Erziehung gerückt werden, und nicht die Lebensvorstellungen der Erwachsenen. In den Anlagen des Kindes liegt grundsätzlich etwas, das über die Weisheit der bestehenden Verhältnisse hinausgeht. Die Erziehung des Menschen nach Interessen des bestehenden Staates oder der gegebenen Wirtschaftsverhältnisse zu gestalten, hieße, dem zukünftigen Staat und der zukünftigen Wirtschaft die Lebenskräfte entziehen.”
Die Fortsetzung der bestehenden Verhältnisse ist hingegen immer auf den Gehorsam der Staatsbürger angewiesen. Da Gehorsam hergestellt werden muss, ist die Volksschule das Instrument dieses Gehorsams. Würde die Volksschule diesen Gehorsam nicht garantieren, geriete die Staatsgewalt in Gefahr. Das ist die zugrundeliegende Logik des Lehrerverbandes. Das Problem daran ist, dass die Zukunft unseres Staates nicht von diesem Staat selbst hergestellt werden kann. Der Staat kann nur von denjenigen in einer freiheitlichen Weise weiterentwickelt werden, die gelernt haben, nicht zu gehorchen. Sie müssen somit gelernt haben bestehendes in Frage zu stellen, statt “solidarisch” mit den Wölfen zu heulen.
Von dieser Erkenntnis ist der Lehrerverband meilenweit entfernt.
Solange nicht begriffen wird, dass sozialer Zusammenhalt nur freiwillig entstehen kann, genauso wie Lernerfolg, Demokratie und Chancengleichheit, ist alles Insistieren auf diese Qualitäten vergeblich. Intelligenz, sozialer Zusammenhalt und demokratische Einsicht können eben nicht demokratisch, sondern nur geistig hergestellt werden.
https://www.nau.ch/news/stimmen-der-schweiz/bildungsgutschriften-in-glarus-wegen-falschen-annahmen-abgelehnt-66989113